Ein ganzes halbes Jahr ist rum!

Da bereits mehr als die Hälfte meiner Zeit hier vorbei ist, war auch schon der offizielle Bericht über meinen Freiwilligendienst fällig. Hier ein Auszug auf Deutsch.

Wer aber den ganzen Bericht auf Lettisch lesen möchte, findet ihn hier :P : 

https://balvubjc.com/2019/01/03/brivpratigo-stasts-maike-jau-piecus-menesus-pie-mums/

Erwartungen und Realität

 

Ich habe versucht mit so wenig Erwartungen wie nur möglich in meinen Freiwilligendienst zu starten. Trotzdem kann ich rückblickend sagen, dass ich mir einige Dinge anders vorgestellt hatte. Vor meiner Ankunft wurde mir immer gesagt, Balvi sei eine kleine Stadt. Dass dieser Begriff für eine Deutsche aber etwas ganz anderes als für Letten bedeutet, wurde mir schnell klar. Bei der Arbeit hatte ich mehr Stress und Beschäftigung erwartet – vor allem in den ersten Wochen hatte ich sehr wenig zu tun und viele Dinge brauchten einfach Zeit. Mittlerweile bin ich sehr zufrieden mit meinem Arbeitspensum. Ich bin beschäftigt, aber nicht gestresst oder überfordert. Apropos Dinge, die ein bisschen länger brauchen: die lettische Sprache! Ich hatte zutiefst gehofft, schnell Lettisch zu lernen, doch ohne regelmäßigen Unterricht und viel Disziplin ist das gar nicht so einfach. Ich beherrsche nun jedoch zumindest die Grundlagen, kann mich erklären oder um Hilfe bitten. Es gab aber natürlich auch Erwartungen, die übertroffen wurden! Ich hatte mich auch auf viel mehr Heimweh, Einsamkeit und Unsicherheit eingestellt – überraschenderweise war es gar nicht so schwierig, sich anzupassen und zuhause zu fühlen. Außerdem sind die Jugendlichen in Balvi äußerst aktiv und nach einer Gewöhnungszeit auch sehr offen mir gegenüber. Aus Erfahrungsberichten hatte ich oft gehört, dass es schwierig ist Freundschaften mit Einheimischen zu bilden und dementsprechend hatte ich diese auch nicht erwartet. Glücklicherweise sind die Jugendlichen aber in meinem Alter, nehmen mich als eine von ihnen auf und durch die Tatsache, dass ich lediglich einen Mitfreiwilligen habe, komme ich auch gar nicht in Versuchung, etwas mit Nicht-Einheimischen zu machen.  

 

Und dann gibt es da natürlich noch den lettischen Winter. Seit dem Tag meiner Ankunft versuchen die Letten mir Angst vor den eisigen Temperaturen von bis zu -30° zu machen. Jedoch sind diese Temperaturen hier auch nur der Ausnahmefall. Bis jetzt ist der Winter noch relativ mild – weniger als -20° waren noch nicht drin (und das auch nur an 2-3 Tagen). Dass sich Haare und Augenbrauen bei diesen Temperaturen weiß färben, sobald man das Haus verlässt, war schon ein kleiner Schock. Doch solange es nicht windet, kann man die kurze Zeit, die man außer Hauses verbringt, gut überstehen. 

Wie mein Freiwilligendienst mich bereits verändert hat

 

Ohne zu übertreiben kann ich sagen, dass die Entscheidung, einen Freiwilligendienst zu machen und nicht sofort mit dem Studium zu beginnen, eine der besten Entscheidungen war, die ich je getroffen habe. Ich hielt diese “sich-im-Ausland-selbst-finden”- Kalendersprüche immer für furchtbar kitschig. Nun muss ich aber sagen, dass da doch ein Körnchen Wahrheit drinsteckt, zumindest für mich. Wenn man nie sein gewohntes Umfeld verlässt und in seiner Komfortzone bleibt, gibt es nämlich weder Raum, als Person zu wachsen, noch diese Vielzahl an Möglichkeiten und Blickwinkeln, die einem von Menschen verschiedener Herkunft offenbart werden können. Distanz zu meinem bisherigen Leben zu erschaffen und an einem anderen Ort von ganz vorne anzufangen, hat mich dazu gebracht, viele Dinge in Frage zu stellen. Zum Beispiel hatte ich meine Studienentscheidung bereits vor dem Abitur abgehakt – doch die vielen Erlebnisse hier und Treffen mit den verschiedensten Menschen haben mich dazu gebracht, das alles nochmal genau zu hinterfragen. Selbst wenn ich am Ende zu meinem ursprünglichen Plan zurückkehren sollte, kann ich wenigstens sicher sein, dass es meine eigene Entscheidung war und sie unabhängig von Beeinflussungen meines Umfelds getroffen habe.

 

Eine andere Sache, die mir mit mehr Abstand zu meiner Schulzeit immer klarer wird, ist, dass man in der Schule nie nur als Person oder Charakter gesehen wird. Man ist immer gleichzeitig Schüler/in und wie man sich im Unterricht verhält sowie welche Noten man schreibt, beeinflusst maßgeblich wie man wahrgenommen wird. Vor allem in der Oberstufe war das Thema Noten übermächtig und allgegenwärtig und alle Gespräche schienen zumindest im weitesten Sinne mit Schule zu tun zu haben. Meine Zeit hier ist das komplette Gegenteil. Ich habe die Möglichkeit, außerhalb eines Klassenzimmers zu lernen, Gespräche zu führen und mich weiterzuentwickeln.

 

Generell kann ich sagen, dass meine Zeit hier mich bereits unabhängiger und selbstbewusster gemacht hat. Ich habe keine Angst mehr, vor Gruppen zu sprechen oder etwas alleine zu unternehmen. Die Mentalität hier färbt in manchen Aspekten außerdem auf mich ab: Mir ist klar geworden, dass nicht alles perfekt organisiert sein muss, um gut zu werden und dass Spontanität nicht immer schlecht sein muss.

 

Abgesehen davon fühle ich mich jedoch Deutschland und meiner Heimatstadt Ravensburg mehr verbunden. Vor meiner Ausreise war ich sehr froh, die konservative Kleinstadt endlich hinter mir zu lassen – doch um einen weiteren kitschigen Kalender-Spruch zu bestätigen: Der verborgene Sinn allen Reisens ist es, Heimweh zu haben.

 

Schlussendlich kann ich nur sagen, dass ich unglaublich dankbar für die letzten Monate bin und einen Europäischen Freiwilligendienst jedem weiterempfehlen kann – es ist ganz sicher keine Zeitverschwendung oder ein verlorenes Jahr, sondern eine großartige Möglichkeit auf alle denkbaren Arten zu lernen!

 

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