Die Bevölkerung Lettlands ist – vor allem hier auf dem Land – ausgesprochen homogen. Dass ich deswegen öfters die erste Deutsche oder sogar Ausländerin bin, denen die Leute begegnen, führt immer wieder zu amüsanten bis unangenehmen Situationen. Generell kann man die Klischee-Gespräche, die ich seit meiner Ankunft hier des Öfteren geführt habe, in vier Kategorien einteilen: Von harmlos-süß bis politisch explosiv ist aber trotzdem alles dabei.
Regeln
August 2018 – ich setze mich auf den Rücksitz eines Autos und schnalle mich an. Prompter Kommentar „das musst du nicht machen“. Ähh, bitte was?? Sind die Gurte hier wirklich nur Deko?! Ja, anscheinend schon. Mein trotziges trotzdem-Anschnallen wird amüsiert mit einem „ohje, du bist so deutsch“ quittiert.
Zu meinem Entsetzen sind anscheinend auch Fahrradwege komplett überbewertet.
„Fahre ich dann auf der Straße oder dem Bürgersteig?“
„Das ist egal. Wie du willst.“
Die generell entspanntere Mentalität zeigt sich auch in den Schulen. Anwesenheitspflicht? Theoretisch schon. Aber wenn sich dann um 11 Uhr Jugendliche zu mir ins Jugendzentrum gesellen, weil sie keine Lust mehr haben, kann man schon mal am Vorhandensein jeglicher Disziplin zweifeln…
Autos
„Was für ein Auto fahren deine Eltern?“, „Was ist dein Traumauto?“ oder „Wie schnell bist du schon gefahren?“ sind Fragen, die mir vor allem in den zahlreichen Schulklassen, in denen ich Präsentationen über Deutschland gehalten habe, immer wieder begegnet sind. Deutsch sein heißt anscheinend sich mit Autos auszukennen...upps!
Hitler und Nazi-Witze
Es scheinen wohl immer noch nicht genug Jahrzehnte vergangen zu sein – eine der Top-Assoziationen mit Deutschland bleibt Hitler. Manchmal frage ich mich dann, woher 5.- oder 6.-Klässler denn so Dinge wie den Hitler-Gruß kennen – aber nachdem ein Sechstklässler während meiner Präsentation über Deutschland „Heil Hitler“ gerufen sowie den rechten Arm gehoben hat, schockt mich so schnell nichts mehr. Jugendliche und Erwachsene interessieren sich oft ehrlich dafür, wie das moderne Deutschland mit der Nazi-Vergangenheit umgeht und versuchen nachzuvollziehen, welchen Stellenwert diese Zeit bis heute im deutschen Bewusstsein einnimmt. Mit Kindern ist das, wie oben bereits zu entnehmen, nicht so einfach. Sie können das Ausmaß und die Sensibilität nicht begreifen, wobei sie zumindest meistens verstehen, dass die Gleichung „Hitler = böse“ lautet. Einer meiner surrealen Momente zu diesem Thema war deswegen, als ein mir unbekannter, vielleicht 10-jähriger Junge auf der Straße auf mich zukam und gerade heraus fragte „what do you think about Hitler?“ Er wusste anscheinend irgendwoher, dass ich dieses deutsche Mädchen hier bin. Ziemlich perplex und verwirrt antwortete ich mit „I don´t like him.“, worauf ich mit anerkennendem Nicken und einem Händedruck belohnt wurde.
Flüchtlinge
Bevor ich mich nun über die rechten Vorurteile aufrege, muss ich meine späteren Aussagen erst einmal entschärfen: Natürlich sind nicht alle Letten gegen Einwanderung und Menschen anderer Herkunft und Religionen. Besonders die Jugendlichen sowie meine Kolleginnen sind sehr offen und freuen sich über kulturellen Austausch, Menschen verschiedenster Herkunft und konstruktive Diskussionen – trotzdem bin ich mir mittlerweile sicher, dass ich mit einer anderen Hautfarbe wohl weitaus weniger Offenheit und Höflichkeit, dafür aber Misstrauen und schiefen Blicken, begegnen würde.
Auf Bewohner eines nicht-mal-2-Millionen-Einwohner-Landes mögen die Zahlen der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge und Zuwanderer durchaus enorm wirken – dass ich anstatt mit ehrlichem Interesse oftmals aber nur mit Suggestiv-Fragen zu diesen „bösen Afrikanern und Muslimen“ konfrontiert bin, stört mich trotzdem ungemein.
„Ihr in Deutschland habt doch ganz schön viele Schwarze“ geht es dann los, doch jeglicher Versuch, einen nicht-rassistischen Standpunkt zu vertreten, führt nur zu Trotz und früher oder später auch zu „in Deutschland kannst du als Frau doch nicht mehr alleine auf die Straße“ und „diese N**** haben in Europa doch nichts zu suchen.“
Diese rassistischen Ansichten machen mich jedes Mal traurig und frustriert, da jeglicher Widerspruch zwecklos scheint.
Doch die junge Generation ist definitiv ein Hoffnungsschimmer: weltoffen, reisefreudig und tolerant. Bleibt nur zu hoffen, dass sie nicht alle das Land verlassen, um bessere Jobs in West- und Nordeuropa zu finden, wie es leider der Trend ist.
Schlussendlich kann ich sagen, dass ich viele der Klischees und Vorurteile, mit denen ich hier konfrontiert wurde, erwartet hatte – in der Wahrnehmung anderer Nationen sind wir nun mal oft die Bier trinkenden, Regel liebenden Sprecher einer aggressiven Sprache.
Lediglich die Flüchtlingsthematik und der damit verbundene Rassismus trafen mich vollkommen unvorbereitet. Ich kann mir auch nicht wirklich vorstellen, im Gespräch mit Vertretern solcher Ansichten jemals eine konstruktive und erfolgreiche Argumentationsstrategie zu entwickeln.